Es bleiben nur Nadeln und Nägel


2023, Installation

Während des Wintersemesters 2022/2023 entschied ich mich, mein mediales Konsumverhalten auf Instagram, Twitter sowie TikTok reflektiert zu lenken und den dabei mir von Algorithmen zugespeisten Content zu sammeln. Diese Sammlung wurde währenddessen auf WhatsApp über meinen Status einem mir teils uneinsehbaren Publikum (jede*r, der meine Telefonnummer hat) zugänglich gemacht. Gesammelt wurde immer nur der Content, der mir erfolgreich von dem jeweiligen Algorithmus zugespielt wurde. Erfolgreich bezieht sich hier auf die Dauer und Intensität meines Konsums.

Dieser wurde immer dann angeregt, wenn mich etwas glücklich gestimmt, beziehungsweise belustigt hat, oder wenn mich etwas an dem Content zu meiner eigenen künstlerischen Arbeit inspiriert hat. Auf der anderen Seite waren auch negative Emotionen und Gedanken Fangnetze, die mich in ihren Bann zogen. Wut, Traurigkeit und Entmutigung spiegelten die positiven Gefühle in einem ganz anderen Antlitz. Diese sich spiegelnden beiden Seiten komplettierten meinen medialen Konsum-Cocktail.

Um diesen digitalen Aufenthalt nicht zu einheitlich einseitig zu erleben, bin ich bewusst diese Algorithmen trainierend mit dem Fluss mitgegangen und habe mit mich ansprechendem Content interagiert. Jedes dieser Videos oder Fotos wurde im Anschluss in einen Sammelordner heruntergeladen. Die dabei entstehende Sammlung von mehr als 11.000 Dateien stimmte mich melancholisch.

Was mache ich mit meinem Leben, meiner Lebenszeit in Stunden, Minuten und Sekunden in einem Ordner geschlichtet, meine Zeit online als Kapital großer Social-Media-Plattformen, meine Emotionen und Gedanken, teils selbst für mich nicht mehr nachvollziehbar – andere ganz klar... Alles ging in der Masse unter und wurde wahnsinnig belanglos. Und das, obwohl diese Momente ganz real gelebt und gefühlt waren. Digital und echt.

Um diesen schwer auszuhaltenden Zustand ertragen zu können, war es mir klar, dass das Festhalten in einem Ordner, rein digital, mir nicht genug war! Ich will wie ein gespiegelter Archäologe mein Semester an digitaler Lebenszeit verbuddeln und zukünftigen Generationen zugänglich machen, damit diese empathisch in die Vergangenheit – meine Zeit – sehen können und zumindest einem Semester an Weltgeschichte von menschlicher Realität etwas näher kommen. Und wenn es nur durch meine subjektive, verspiegelte Brille weitergegeben werden kann, soll es real bleiben. Später fand auch diese Stoffsammlung einen Direkten gebrauch in
Es bleiben nur Nadeln und Nägel Auge.

Es bleiben nur Nadeln und Nägel Auge präsentierte die Stoffsammlung, als visuelles Kondensat meiner gesammelten Elemente. Der Bildschirm als Darbietungsfläche, der wie ein Altar lag, ließ die einzelnen Videos scheinbar fragmentiert, sowohl visuell, als auch auditiv Moireeffekt-artig pulsierend und flirrend erscheinen, ohne sie zu ordnen. Die Oberfläche vibriert, Licht bricht auf der glatten Umgebung und das Auge erzeugt ein reizüberflutendes Rauschen, das gerade einmal 6,4% der Sammlung als überfordernde Wahrheit, körperlich erfahrbar macht. Siehe oben.


Es bleiben nur Nadeln und Nägel Gallenblase wurde Auf diesem Bildschirm als anthrazitfarbener Acrylglaswürfel aufgebart. Die im Inneren platzierten Schweinepfoten, gekreuzigt mit einem langem, rostigen, historischen Nagel, blitzen durch das Licht des Bildschirms für kurze Momente auf, nur um dann wieder hinter dem dunklen acrylglas zu verschwinden. Diese Hülle der Gallenblase, per Lasergravur vernarbt, erzählte dabei eine zusätzliche Geschichte, die das Aufflackern überlagert. Diese Lasergravuren, von innen heraus foliert, um das Austreten von Fäulnisgasen über Verjüngungen im Material zu verhindern. Sehr still, fast unsichtbar ummantelt der Würfel den Zersetzungsprozess der überkreuzten Schweinepfoten, eine Naturgewalt, eine Ursuppe, hermetisch geschützt, deren Kampf um Freiheit wiederum nur von dem künstlichen Material Acryl in seine Schranken verwiesen wurde. Für diese Konstruktion hatte ich zuvor recherchiert, skizziert und Materialien geprüft. Der Würfel wurde mit besonders starkem Aquariensilikon für Riesenaquarien abgedichtet, um dem Druck der Verwesung standzuhalten. Das Silikon hielt, doch beim Zerfall des Fleisches bildete sich Aceton, das die Acrylplatten angriff und weich machte. Auch die Gravuren hielten, geschützt durch die innere Folierung. Dabei habe ich gelernt, welche Materialien mit gammelden Fleisch in Berührung kommen dürfen und welche nicht, wie sich Prozesse entwickeln und welche chemischen Wirkungen entstehen können.

Zusammen bilden diese drei Arbeiten ein wachsendes Werk, wie ein wachsendes Geschwür breitet es sich aus, strebend nach Beständigkeit. Die entstandene Serie umschließt thematisch über ihre eigene Vergänglichkeit die der menschlichen Kultur, und das trotz aller Bestrebungen der Menschen, etwas zu hinterlassen. Was bleibt? Erinnerung, Geschichten und deren Kommunikation sowie die Wechselwirkung zwischen digitalem und physischem Leben im 21. Jahrhundert.

Jedes weitere Organ fängt den Zwiespalt zwischen der flüchtigen Natur digitaler Inhalte als auch dem Bedürfnis nach physischer, greifbarer Präsenz ein und soll als wachsender Körper in der Zukunft noch weiter ausgeführt werden, um diese Thematik umfassender zu erforschen und darzustellen.

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Das erste in dieser Sehnsucht entstandene, zu rearchäologisierende Zwischenergebnis des Werks
Es bleiben nur Nadeln und Nägel – Lungenflügel fängt die Suche nach eben dieser idealen, spiegelnden Übersetzungsform von hinten an und hatte den Anspruch, zukünftigen Generationen nicht zugänglich zu sein. Denn sie frisst sich selber auf. Langsam. Aber sicher – ich bin mir sicher.

Im nächsten Schritt folgte das Artefakt Es bleiben nur Nadeln und Nägel – Darm. Von außen verrotten könnende Materialien, die sich aber nicht selbst abbauen. In Salz eingelegter Darm, Pflanzen oder aus Pflanzenfasern hergestelltes Seil, wie das Hanfseil, Knochen und Holz bilden ein Tor zu einem nicht ganz so natürlichen Material. Ursprünglich aus polymerisierter Milchsäure gewonnen, zerfällt es zwar unter den richtigen Bedingungen wieder zu Humus, aber außerhalb spezieller Fabrikbedingungen wird es nie zu dem vollständigen Verfall kommen, wodurch dieses Material als Plastik im Kontrast zum Menschenleben scheinbar ewig weiterlebt.

Die Rede ist von PLA, einem 3D-druckbaren Polymer. Dieses PLA formte ein dreidimensionales, ausgeweidetes und kopfüber, mit offenem Bauch den Besucher*innen entgegenstreckendes Patchwork-Schwein! Das verzierte Holztor scheint einen anlocken zu wollen, wie eine freundliche Einladung, die paradiesische Rolle des Schweines einzunehmen. In der Ausstellung komplettierten violettes und rosafarbenes Licht sowie eine komplexe Geruchskomposition sich zu einem fein abgestimmten Ganzen. Verwesendes Fleisch, Salz, Darm, Urin, Knochen, Weihrauch sowie rosa, weiße und grüne Chrysanthemen, verderbende Pflanzenteile, PVC-Planen und abschließend honigsüß duftende Weintrauben aus dem Garten meiner Mutter ergaben alle zusammen einen stimmigen Gesamtgeruch.

Diesen Geruch konnte man nicht nur mit der Nase wahrnehmen, die Luft war so angereichert von diesem Duft, dass man das Gefühl hatte, durch einen dickflüssigen Geruch durchzuwaten, ringsum umhüllt, als würde man sich durch einen Darm wühlen.