Entmystifizierung geheiligten Fleisches


2024, Installation
Tuftteppich aus weißer und handgefärbter roter Schurwolle, Edelstahl-Schlachtschrage, Gelatineguss, abgetöteter und versiegelter Schimmel, Wildschweinfellvorleger, 600 x 600 x 350 cm

In der Installation Entmystifizierung geheiligten Fleisches ergänzen sich Archaik, Schlachthausästhetik und verfallende Fleischlichkeit zu einer großen, raumeinnehmenden Gesamtinstallation, die von Besucher*innen betreten werden kann. Eine monumentale Jagdtapisserie aus weißer Naturschurwolle mit selbstgefärbter, blutroter, graphisch geschichtenerzählender Wolle, die neben den dargestellten Jagdszenerien im Formalaufbau an brutale, katholizistische Kirchenfresken erinnert, thront an der Wand und leitet die drohende, gewalt-volle Atmosphäre. Die rote Naturschurwolle kontrastiert im Dichrom mit der natürlichen, weißelfenbeinfarbenen Wolle und soll so die blutrünstig, archaische Ästhetik verstärken. Die Vielzahl der im Raum verteilten, schimmligen Gelatine-Speckkäfer*larven spielt neben einer von drei erzählerischen Hauptrollen auch noch die symbolische Rolle des Verfalls von Kultur und Leben. Die Gelatine wurde von echten Speckkäferlarven angefressen, der Schimmel abgetötet und überlackiert, um die Arbeit nicht gesundheitsschädlich zu machen. In der Mitte das erlittene Martyrium. Ein ausgeweidetes Schwein, genau wie die Speckkäfer*larven aus Gelatine gegossen, liegt auf einer Schlachtschrage, das wunde Innere gen Himmel entblößt. Wie es scheint, bewegt sich alles auf dieses Schwein zu. Geruch und Größe der Installation sollen die in ihr stehenden Rezipient*innen in ihre und somit in die dritte Rolle der Installation, den Menschen, versetzen. Diese Arbeit begleitet mich gedanklich schon über viele Jahre. Kürzlich öffneten wir eine Klassenzeitkapsel aus 2022, in der ich die groben Konstruktionslinien der Jagdtapisserie festgehalten hatte. Während des Zusammensuchens verschiedenster Informationen zu meinen Arbeiten fand ich in meinen Notizen Vorläuferideen, die noch älter als diese Zeitkapsel sind. Diese damals geplanten Werküberlegungen enthielten bereits ältere Versionen der in Entmystif izierung geheiligten Fleisches vorkommenden Charaktere, die dabei aber ganz andere Erzählungen kommunizierten. Im Unterschied zu meiner Arbeit Aeaea Shrine versuche ich bereits bei allen diesen Ideen multidimensionale Geschichten zu erzählen, die in verschiedenen Zeitebenen gelesen werden könnten und Rezipient*innen mit unterschiedlichen Erfahrungen ansprechen hätten sollen. Neben als solche lesbaren, westlichen Ikonographien und Darstellungen verwurstete ich Anekdoten meiner Kindheit in Entmystifizierung geheiligten Fleisches. Meine Eltern haben sich früher scheiden lassen, als ich es von anderen Scheidungskindern kenne. Trotzdem teilen sich beide Familienhälften einige anekdotisch erzählte Erinnerungen an meine Kindheit und beanspruchen diese für sich. Ich werde wohl drei Jahre alt gewesen sein. Ich erinnere mich, wie ich spielend durch die angebauten Weinreben meiner Großeltern väterlicherseits tollte. Ich kam an der Scheune an und schaute in Richtung der Jungschweine, die in einem schrankförmigen Holzstall gehalten wurden. In dieser Sichtachse sah ich einen Edelstahltisch und mehrere teils oberkörperfreie Männer, wie sie angestrengt ein zappelndes Schwein auf den Tisch drückten und letztlich stachen.
Ich glaube mich an die Schreie zu erinnern, an das Abfackeln der Borsten sowie den dabei entstehenden Geruch, an das Lachen und Reden der Männer. An viel mehr erinnere ich mich nicht. Der Rest stammt von den Erzählungen an den Esstischen meiner Familie. Ich soll wohl an den ausgeweideten Körper herangetreten und hochgeklettert sein, ich soll im Bauchraum nach den Würsten gesucht haben und laut Erzählung sogar nach diesen gefragt haben. Interessanterweise beanspruchen beide Familienhälften diese Geschichte für sich, beide meinen, dass sich das Ganze bei ihnen zugetragen hätte. Wer hat mir die Geschichte zuerst erzählt und wohl meine Erinnerungen fabriziert?

Video-Block
Hier doppelklicken um eine Video-URL oder Einbettungscode hinzuzufügen. Mehr erfahren

Es ist egal, da sich offensichtlich beide bildlich an das Geschehen erinnern und sich die Realität an dieser Stelle zu spalten scheint. Die Würste, die ich erfolglos im geöffneten Bauch des Hausschweins suchte, landeten wohl in der Realität der Speckkäfer*larven, genauer gesagt in den schmerzhaft, durch einen langen Schnitt entlang seines Bauches herausgeborstenen Gedärmen des Wildschweins meiner Jagdtapisserie! Die Szenerie des Teppichs wird aus der Perspektive der Speckkäfer*larven dargestellt. Daher ist der tötende Mensch auf der linken Seite nur über seine Beine im Bild zu sehen. Eine Naturgewalt, die man nicht wirklich verstehen kann. Sie ist da, sie tötet, hat aber sicher keinen eigenen Charakter oder gar ein Bewusstsein. Das Schwein hingegen schenkt den Speckkäfer*larven lebensspendende, wichtige Ressourcen – die beiden Würste die aus den Gedärmen ragen. Ein Märtyrer, der die Kultur der Speckkäfer*larven auf ein neues Hoch heben soll, der noch in Zukunft Generationen nähren soll. Das Fell des damals ermordeten Wildschweins liegt in der Mitte der Installation auf dem Boden und bezeugt dabei diese Geschichte, die über ihm an der Wand hängt. Auf diesem Wildschweinfell steht brutal und pietätlos eine echte edelstählerne Schlachtschrage mit ihren Rädern, auf welcher aufgebahrt ein geöffnetes Schwein aus ballistischer Gelatine liegt. Tritt man an dieses Schwein neugierig heran, wird man jedoch ernüchternd feststellen müssen, dass das Bauchinnere leer ist. Keine lebensspendende Wurst. Schaut man sich von dieser Wurstlosigkeit enttäuscht um, wird man feststellen, dass die ebenfalls aus Gelatine gegossenen Speckkäfer*larven, die die Schlachtschrage rituell zu umschwirren scheinen, in keinem guten Zustand sind. Selbst die kindlichen Larven sind steinhart, zerfallen bereits und sind mit Schimmel bedeckt. Aus manchen Speckkäfer*larven scheinen sogar Stücke zu fehlen, kleine Bissspuren sind zu sehen! Kam es hier zu Kannibalismus? Religiös besessen steuern die zombiehaften Insekten spiralförmig auf die Mitte des Raumes, auf die noch weiche Gelatine des Schweines zu. Wenn dieses Schwein keine Würste hat, dann doch sicher das nächste oder übernächste. Was sind schon 1000 schreiende Schweine auf der Suche nach der Wurst?! Die Speckkäfer*larven und das Schwein bestehen aus dem selben Material, dennoch töten die Larven die Schweine über Generationen in der Hoffnung auf ein unerreichbares Ereignis. Die sinnlose Wiederholung dieser Tat zeigt die verzweifelte, unreflektierte Suche nach erlösender Beständigkeit und der Erfüllung in Vergangenheit prophezeiter Versprechungen.